Unter den Schätzen des gregorianischen Gesangs besitzen wenige die theologische Kraft, den spirituellen Dramatismus und die poetische Schönheit des Dies Irae, des Hymnos, der über Jahrhunderte die Liturgie der Verstorbenen und die Reflexion über das Jenseits begleitet hat. Sein Name —„Tag des Zorns“— weckt die Erinnerung an das Jüngste Gericht, wie es von den Propheten und der Apokalypse beschrieben wird, wenn Christus zurückkehren wird, um Lebende und Tote zu richten.
Eine Juwel des christlichen Mittelalters
Das Dies Irae entstand im 13. Jahrhundert und wird traditionell Tomás de Celano, dem Schüler und Biografen des heiligen Franziskus von Assisi, zugeschrieben. In einer Zeit glühenden Glaubens und lebendigen Bewusstseins vom ewigen Leben suchte die Kirche, in Kunst und Liturgie die Ernsthaftigkeit des göttlichen Gerichts auszudrücken. Jede Strophe dieses kurzen, rhythmischen lateinischen Gedichts beschreibt mit Zurückhaltung und Zittern die Szene des Gerichts: die Trompeten, die die Toten wecken, das geöffnete Buch, in dem alles offenbart wird, die Seele, die vor ihrem Schöpfer erscheint.
Es handelt sich nicht um ein Lied des Schreckens, wie einige es karikieren, sondern um eine Meditation über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. In seinen Versen hallt die Hoffnung des Sünders wider, der ruft: „Pie Jesu Domine, dona eis requiem“ — „Barmherziger Herr Jesus, gib ihnen die ewige Ruhe“.
Die Seele der Liturgie der Verstorbenen
Über Jahrhunderte war das Dies Irae Teil des römischen Ritus in der Missa pro defunctis, gesungen zwischen Graduale und Evangelium. Es war das Herz des christlichen Begräbnisses: die Erinnerung daran, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern der Übergang zu einem gerechten und barmherzigen Gericht. Seine Musik, mit ernster und wiederholender Melodie, prägte sich im Gedächtnis ein wie ein Aufruf zur Bekehrung.
Im Mittelalter und Barock inspirierte es Dichter, Theologen und Musiker. Mozart, Verdi und andere große Komponisten integrierten es in ihre berühmten Requiems und erkannten in seinem Text eine universelle Wahrheit: die Größe Gottes und die Zerbrechlichkeit des Menschen vor dem ewigen Geheimnis.
Vom modernen Vergessen zur spirituellen Wiederentdeckung
Nach der liturgischen Reform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde das Dies Irae aus der ordentlichen Liturgie der Verstorbenen entfernt und nur in der Liturgie der Stunden im Lesungsamt des letzten Sonntags der gewöhnlichen Zeit beibehalten. Viele betrachten diese Unterlassung als spirituellen Verlust: Eine der erhabensten Ausdrucksformen des christlichen Realismus über Tod, Gericht und die Notwendigkeit der Erlösung wurde zum Schweigen gebracht.
Allerdings hat das Dies Irae in den letzten Jahren unter denen, die die gregorianische Tradition und den heiligen Sinn der Anbetung wiederbeleben wollen, eine Renaissance erlebt. Sein Text wird gebetet und gesungen in Gemeinschaften, die die traditionelle Messe feiern, und seine Meditation rührt wieder junge und gläubige Menschen, die in ihm ein Echo der katholischen Seele entdecken, die die Wahrheit des Gerichts nicht fürchtet, weil sie auf die göttliche Barmherzigkeit vertraut.
Eine Lektion für den modernen Menschen
In einer Welt, die es vermeidet, über Sünde und das Jenseits zu sprechen, erinnert das Dies Irae an eine vergessene Wahrheit: Das Leben ist ernst, weil es ein ewiges Ziel hat. Es geht nicht um Furcht, sondern um Weisheit. Wer das Gericht im Glauben betrachtet, lernt, verantwortungsvoll zu leben, mit Liebe zu Gott und Hoffnung auf seine Vergebung.
Dieses Lied ist keine Drohung, sondern ein Flehen: Dass der Herr am Tag des Zorns an uns mit Barmherzigkeit denke. Deshalb ist das Dies Irae in der katholischen Tradition nicht nur Poesie: Es ist ein Gebet, das die Seele auf das Treffen mit ihrem Schöpfer vorbereitet.
Vollständiger Text des Dies Irae:
| Latein | Deutsch |
|---|---|
| Dies irae, dies illa, Solvet saeclum in favilla, Teste David cum Sibylla. |
Tag des Zorns, jener Tag wird die Welt in Asche auflösen, wie David und die Sibylle es verkündet haben. |
| Quantus tremor est futurus, Quando judex est venturus, Cuncta stricte discussurus! |
Welch großes Zittern wird es geben, wenn der Richter kommt, um alles streng zu prüfen! |
| Tuba mirum spargens sonum, Per sepulcra regionum, Coget omnes ante thronum. |
Die Trompete, die ihren wunderbaren Klang über die Gräber der Länder verbreitet, wird alle vor den Thron versammeln. |
| Mors stupebit et natura, Cum resurget creatura, Judicanti responsura. |
Der Tod und die Natur werden staunen, wenn die Kreatur aufersteht, um dem Richter zu antworten. |
| Liber scriptus proferetur, In quo totum continetur, Unde mundus judicetur. |
Das geschriebene Buch wird vorgelegt, in dem alles enthalten ist, nach dem die Welt gerichtet wird. |
| Judex ergo cum sedebit, Quidquid latet apparebit, Nil inultum remanebit. |
Wenn der Richter sich setzt, wird alles Verborgenes sichtbar werden, nichts wird ungestraft bleiben. |
| Quid sum miser tunc dicturus? Quem patronum rogaturus, Cum vix justus sit securus? |
Was werde ich, der Elende, dann sagen? Welchen Fürsprecher werde ich anrufen, wenn kaum der Gerechte sicher ist? |
| Rex tremendae majestatis, Qui salvandos salvas gratis, Salva me, fons pietatis. |
König furchtbarer Majestät, der die zu Rettenden umsonst rettest, rette mich, Quelle der Barmherzigkeit. |
| Recordare, Jesu pie, Quod sum causa tuae viae, Ne me perdas illa die. |
Gedenke, barmherziger Jesus, dass ich der Grund deines Kommens bin; verliere mich nicht an jenem Tag. |
| Quaerens me sedisti lassus, Redemisti crucem passus, Tantus labor non sit cassus. |
Mich suchend hast du müde gesessen, du hast mich erlöst durch das Leiden am Kreuz; lass diese Mühe nicht umsonst sein. |
| Juste judex ultionis, Donum fac remissionis, Ante diem rationis. |
Gerechter Richter der Rache, gib mir das Geschenk der Vergebung vor dem Tag der Abrechnung. |
| Ingemisco, tamquam reus, Culpa rubet vultus meus, Supplicanti parce, Deus. |
Ich stöhne wie ein Schuldiger, mein Gesicht errötet vor Schuld, verschone den Bittenden, o Gott. |
| Qui Mariam absolvisti, Et latronem exaudisti, Mihi quoque spem dedisti. |
Du, der Maria vergeben hat und den Dieb erhört hat, hast auch mir Hoffnung gegeben. |
| Preces meae non sunt dignae, Sed tu bonus fac benigne, Ne perenni cremer igne. |
Meine Gebete sind nicht würdig, aber du, der Gute, handle gnädig mit mir, damit ich nicht im ewigen Feuer verbrenne. |
| Inter oves locum praesta, Et ab haedis me sequestra, Statuens in parte dextra. |
Gib mir einen Platz unter den Schafen und trenne mich von den Böcken, indem du mich zur Rechten stellst. |
| Confutatis maledictis, Flammis acribus addictis, Voca me cum benedictis. |
Wenn die Verfluchten widerlegt sind und den scharfen Flammen übergeben werden, rufe mich mit den Gesegneten. |
| Oro supplex et acclinis, Cor contritum quasi cinis, Gere curam mei finis. |
Ich flehe dich an, demütig und gebeugt, mit zerbrochenem Herzen wie Asche: Nimm dich meines Endes an. |
| Lacrimosa dies illa, Qua resurget ex favilla, Judicandus homo reus. |
Tränenreich wird jener Tag sein, an dem der Mensch aus der Asche aufersteht, um als Schuldiger gerichtet zu werden. |
| Huic ergo parce, Deus: Pie Jesu Domine, Dona eis requiem. Amen. |
Verschone ihn also, o Gott: Barmherziger Herr Jesus, gib ihnen die ewige Ruhe. Amen. |
